Trauma & Soziale Medien: Wie Online-Exposition Angst verstärken kann – und was somatische Übungen dagegen tun können
- Rebecca Rinnert
- 13. Okt.
- 4 Min. Lesezeit

Der Moment, in dem dein Körper „Genug“ sagt
Es ist spät. Du liegst im Bett, das Licht deines Handys erhellt das Zimmer. Du scrollst durch deinen Feed – erst nur, um kurz abzuschalten – und plötzlich fühlst du dich schwer, angespannt.Dein Herz schlägt schneller. Dein Atem wird flacher. Du sagst dir, es sei nichts – aber dein Körper weiß es besser.
Dieses Unwohlsein ist kein Zeichen von Schwäche oder Überempfindlichkeit. Es ist dein Nervensystem, das auf digitalen Stress reagiert. Für Menschen mit traumatischen Erfahrungen kann der ständige Reizfluss, der Vergleich und die emotionale Dichte in sozialen Medien alte Alarmzustände reaktivieren.
Warum Trauma und soziale Medien sich oft nicht gut vertragen
Trauma lebt nicht nur in Erinnerungen – es lebt im Körper. Es verändert, wie die Amygdala (das Alarmsystem des Gehirns) und der Vagusnerv (der Hauptregulator des Sicherheitsgefühls) auf Reize reagieren.
Beim Scrollen durch Bilder, Nachrichten oder Diskussionen erkennt die Amygdala keine Unterscheidung zwischen echter und virtueller Gefahr. Sie sendet Alarm.Gleichzeitig fehlen dem Vagusnerv beruhigende Reize – keine Mimik, kein Augenkontakt, keine reale Co-Regulation.
Das Ergebnis? Digitale Überforderung – dieses diffuse, nervöse Gefühl nach zu viel Bildschirmzeit.
1. Die Vergleichsfalle
Soziale Medien leben vom Vergleich. Auch wenn du weißt, dass vieles inszeniert ist, vergleicht dein Gehirn weiter – und dein Körper reagiert.Wer in der Vergangenheit das Gefühl kannte, nicht genug zu sein oder ständig bewertet zu werden, spürt online oft die alten Wunden von Ablehnung und Minderwertigkeit wieder aufbrechen.
„Warum sehe ich nicht so aus?“„Warum läuft es bei anderen besser?“
Diese Gedanken lassen den Körper in einen Zustand von Kampf, Flucht oder Erstarrung zurückfallen.
Probier es jetzt:Wenn du merkst, dass sich Vergleich oder Druck aufbauen, halte kurz inne.Atme tief durch und spüre deine Füße auf dem Boden oder das Gewicht deines Körpers auf dem Stuhl. Sag dir leise:
„Ich bin hier. Ich bin sicher in diesem Moment. “So signalisierst du deinem Nervensystem: Es darf sich entspannen.
2. Doomscrolling und das Alarmsystem des Körpers
Mit jedem Wischen erlebst du neue Emotionen – Wut, Trauer, Angst.Die Spiegelneuronen deines Gehirns reagieren, als würdest du das Erlebte selbst erfahren.Wer Trauma erlebt hat, dessen Nervensystem ist ohnehin sensibilisiert. Dauerhaft negative Inhalte zu konsumieren ist dann, als würde man immer wieder an eine Wunde fassen, die noch nicht verheilt ist.
Dein Körper weiß nicht, dass du „nur scrollst“. Er glaubt, du erlebst Bedrohung – immer wieder, ohne reagieren oder fliehen zu können.
Probier es jetzt: Nach belastenden Inhalten schließe kurz die Augen. Atme langsamer aus als ein. So aktivierst du deinen Vagusnerv – und gibst deinem Körper das Signal: Die Gefahr ist vorbei.
3. Der Verlust von Regulation und Verbindung
Offline regulieren wir uns über Nähe: Gesichtsausdruck, Stimme, Berührung.Online fehlen diese Signale. Das Nervensystem bekommt keine Rückmeldung, dass alles in Ordnung ist.So entsteht dieses paradoxe Gefühl: gleichzeitig überreizt und einsam. Dein Körper sucht nach echter Verbindung, die ein Bildschirm nicht bieten kann.
4. Der Dopamin-Kreislauf
Likes, Kommentare, Benachrichtigungen – all das triggert kleine Dopamin-Ausschüttungen. Für Menschen mit Trauma kann dieses unvorhersehbare Belohnungssystem an instabile Bindungen erinnern: kurze Momente von Anerkennung, gefolgt von Leere.
Der Körper lernt, ständig auf den nächsten Reiz zu warten – ein Zustand, der erschöpft und unruhig macht.
Probier es jetzt: Bevor du eine App öffnest, lege eine Hand auf dein Herz, eine auf deinen Bauch. Frag dich:
„Wonach suche ich gerade – Verbindung, Ablenkung oder Trost?“Diese einfache Frage verschiebt dich von Impuls zu Bewusstheit.
Somatische Übungen gegen digitale Überforderung
Heilung von Trauma und sozialem Medienstress bedeutet nicht, offline zu gehen – sondern den Körper wieder als Kompass zu nutzen.Somatische Übungen helfen, das Nervensystem zu beruhigen, Sicherheit aufzubauen und präsent zu bleiben.

1. Erdung über die Sinne
Wenn du dich überfordert fühlst, richte deine Aufmerksamkeit nach außen:
5 Dinge, die du siehst
4 Dinge, die du spürst
3 Dinge, die du hörst
2 Dinge, die du riechst
1 Sache, die du schmeckstDiese einfache 5-4-3-2-1-Übung bringt dich zurück ins Hier und Jetzt.
2. Sanfte Bewegung
Schüttle Arme und Beine aus, rolle deine Schultern, dehne dich oder gehe kurz barfuß.Bewegung hilft, angestaute Energie abzuleiten und Spannung zu lösen.
3. Somatische Grenzen
Dein Handy bestimmt nicht, wann dein Körper Ruhe bekommt.Führe feste bildschirmfreie Zeiten ein – z. B. in der ersten halben Stunde nach dem Aufstehen oder in der Stunde vor dem Schlafengehen. Diese Grenzen sind keine Einschränkung, sondern Selbstfürsorge für dein Nervensystem.
Ein bewussterer Umgang mit der digitalen Welt
Es geht nicht um Perfektion, sondern um Achtsamkeit. Wenn du lernst zu spüren, wie dein Körper auf Online-Reize reagiert, kannst du rechtzeitig gegensteuern – atmen, pausieren, abschalten.
Mit der Zeit merkst du: Dein Umgang mit Technik spiegelt deinen Umgang mit dir selbst.Beides wird ruhiger, freundlicher, liebevoller.
Häufige Fragen (FAQ)
1. Warum verstärken soziale Medien meine Angst nach einem Trauma?
Die Amygdala unterscheidet nicht zwischen realer und digitaler Gefahr. Sie aktiviert dieselben Stressreaktionen wie in traumatischen Momenten – auch wenn du nur scrollst.
2. Wie helfen somatische Übungen bei Online-Angst?
Sie beruhigen den Vagusnerv, fördern Körperbewusstsein und helfen, aus dem Alarmzustand in Ruhe zu kommen. Mit der Zeit lernt dein Körper, dass Pausen sicher sind.
3. Woran erkenne ich digitale Überforderung?
Anhaltende Anspannung, flacher Atem, Gereiztheit, Leere oder der Drang, „noch kurz weiterzuscrollen“ – das sind Zeichen eines überlasteten Nervensystems.
4. Wie kann ich gesunde Grenzen setzen?
Beobachte, wann du dich nach dem Scrollen erschöpft oder angespannt fühlst.Wähle einen Zeitraum pro Tag, in dem du offline bleibst, und ersetze ihn durch etwas Regulatives – Atmung, Bewegung, Musik oder Natur.
5. Kann Therapie helfen, besser mit sozialen Medien umzugehen?
Ja. Ein trauma-informierter oder somatisch arbeitender Therapeut kann dir helfen, Auslöser zu erkennen und Strategien zu entwickeln, um dich digital sicherer zu fühlen.

Heilung in einer digitalen Welt
Soziale Medien sind kein Feind – aber ein Raum, in dem Bewusstheit wichtig ist.Wenn du lernst, auf die Signale deines Körpers zu hören und sie zu respektieren, kannst du dich online bewegen, ohne dich zu verlieren.
Heilung bedeutet nicht, der Welt den Rücken zu kehren –sondern in sie zurückzukehren, mit deinem Körper als Verbündeten statt als Schlachtfeld.



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